Das Licht der Welt – 1. Tag
Seit der Antike und weit bis in die Neuzeit hinein versteht man den menschlichen Geist bzw. die Seele bei der Geburt als tabula rasa, als vollkommen unbeschriebenes Blatt. Danach füllt sich der menschliche Intellekt über die Wahrnehmung und Erfahrung nach und nach mit Inhalten und Strukturen. Insbesondere das Sehen, die „visuelle Erfahrung“, wie der Arzt und Philosoph John Locke es nannte, trägt dazu bei, den leeren Raum im Kopf des Neugeborenen nach und nach zu strukturieren und mit Formen, Bildern, Ideen, Gedanken zu füllen. Der Schriftsteller und Sprachforscher Johann Christoph Gottsched schreibt Anfang des 18. Jahrhunderts: „Den augenblick da wir gebohren werden, wissen unsre Seelen noch von sich selber nicht. Die Sinne machen den allerersten Eindruck in die leeren Tafeln unsers Gemüthes, und legen den Grund zu allem unserm künfftigen Erkenntnisse.“
Auch wenn heute bekannt ist, dass viele Strukturen im Gehirn angeboren und vererbt sind, beginnt die visuelle Wahrnehmung doch bei null. Die physiologische und psychisch-intellektuelle Verarbeitung der Sinneseindrücke braucht eine Weile, um sich zu entwickeln. Säuglinge nehmen zunächst nur unscharfe Bilder wahr, sehen noch keine Farben und können die Eindrücke aus beiden Augen noch nicht zu einem Bild verbinden. Bis ihr Sehvermögen voll ausgebildet ist und sie die auf sie einströmenden Sinneseindrücke sortieren, filtern, einordnen können, vergehen bis zu zwölf Jahre, nach einem Jahr sind etwa 50 Prozent der Sehleistung eines Erwachsenen erreicht.
Was genau aber sieht ein neugeborenes Kind? Wie gestaltet sich seine erste optische Begegnung mit der Welt? Was sind seine allerersten Eindrücke? Das vermag niemand mit absoluter Sicherheit zu sagen. Die Forschung in diesem Bereich gestaltet sich naturgemäß schwierig. Mit meiner Serie versuche ich eine exemplarische künstlerische Annäherung unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Die Fotos wurden zum größten Teil auf der Geburtsstation des Vivantes Klinikums Kaulsdorf bei laufendem Betrieb aufgenommen. Für ihre tatkräftige Unterstützung des Projekts danke ich vor allem der Hebamme Annette Müller sowie Marlene Kommallein und Mischa Moriceau.
Since ancient times and far into modern times, the human mind or soul has been understood at birth as a tabula rasa, a completely blank sheet. Thereafter, the human intellect gradually fills with content and structure through perception and experience. In particular, seeing, the „visual experience“, as the physician and philosopher John Locke called it, contributes to gradually structuring the empty space in the newborn’s head and filling it with forms, images, ideas, thoughts. The writer and linguist Johann Christoph Gottsched wrote at the beginning of the 18th century: „The moment we are born, our souls do not yet know of themselves. The senses make the very first impression on the blank tablets of our minds, and lay the foundation for all our future knowledge.“
Even though we know today that many structures in the brain are innate and inherited, visual perception begins at zero. The physiological and psychological-intellectual processing of sensory impressions takes a while to develop. Infants initially perceive only blurred images, do not yet see colors and cannot yet combine the impressions from both eyes to form a picture. It can take up to twelve years before their vision is fully developed and they are able to sort, filter and classify the sensory impressions that flow into them; after one year, about 50 percent of the visual performance of an adult is achieved.
But what exactly does a newborn child see? What is its first visual encounter with the world like? What are its very first impressions? No one can say with absolute certainty. Research in this area is naturally difficult. With my series I try an exemplary artistic approach under consideration of scientific findings.
Most of the photos were taken in the maternity ward of the Vivantes Klinikum Kaulsdorf while the hospital was in operation. I would like to thank the midwife Annette Müller as well as Marlene Kommallein and Mischa Moriceau for their active support of the project.